Der spanische Schriftsteller Javier Cercas stellte vor einigen Monaten sein Buch "Las leyes de la frontera" an dem Instituto Cervantes in Berlin vor.
Ich war von dem Menschen Cercas, den ich nur aus seinen wöchentlichen Artikel in "El Pais" kannte, begeistert. Er drückte sich mit der gleichen Schärfe und Klarheit aus, mit der er zu schreiben pflegt.
Interessant fand ich vor allem seine Theorie des "Blinden Flecks".
Was ist der blinde Fleck?
Wenn man zu schreiben beginnt, so Cercas, weiss man nicht mit Sicherheit, was am Ende entstehen wird, man hat zwar ein Konzept skizzieren und tausende Details im Kopf, aber der Akt des Schreibens ist ein kreativer Akt, der sich nicht ganz bewusst leiten lässt.
Unterwegs ragen Ideen empor, die nicht geplant waren; das ist auch das Faszinierende am Schreiben- oder an anderen künstlerichen Tätigkeiten.
So sei er selbst am meisten überrascht, als aus seinem Buch, anders als gedacht, am Ende eine Liebesgeschichte wurde.
Das ist ein blinder Fleck. Etwas das entsteht, ohne dass es geplant war. (Jemand sagte bezüglich der Kunst, dass ein Kunstwerk erst durch den Rezipienten vollendet wird.)
Wir Therapeuten arbeiten mindestens seit Freud mit dem blinden Fleck.
Man könnte die Therapie sogar als das Suchen nach dem blinden Fleck beschreiben. Wenn der blinde Fleck erscheint, wird alles lebendiger, die Emotionen beben und die Geschichte kann eine interessante Wendung bekommen.
Und, obwohl viele blinde Flecke in unser Leben existieren, sind die wichtigen, die wesentlichen, nicht so viele - und ähneln oft einander.
Alice Miller hat in ihrem berühmten Buch, "Das Drama des begabten Kind", einen von diesen blinden Flecken beschrieben; die Mutter*, oder besser gesagt, die Interaktion mit ihr.
Die Menschen, die Miller beschreibt, zeigen eine ähnliche Symptomatik im Erwachsenalter. Sie fühlen sich Erschöpft, Lebensmüde, oder Entfremdet, im klinischen Jargon spricht man hier über Dysthymia, eine chronische Depression.
Wenn man sich die Biographie dieser Menschen anguckt findet man manchmal kein offensichtliches traumatisches Erlebnis, oft wurden sie als Kinder von ihre Eltern, oberflächlich betrachtet, gut versorgt, gepflegt und sogar kognitiv stimuliert, sie wurden nicht offensichtlich vernachlässigt bzw. missbraucht.
Nein, es handelt sich hier um ein etwas Subtileres.
Zum Beispiel kam es nicht selten vor, dass sie Parentifiziert wurden, d.h. als Ersatz für einen abwesenden Erwachsenen benutzt wurden. Oder sie wurden einfach wie die Erwachsene behandelt, die sie noch nicht waren.
Die Eltern waren nicht imstande das Kind in ihnen wahrzunehmen, wahrscheinlich weil sie selber nie Kinder waren.
Uns so lernten diese Kinder sich entsprechend den Erwartungen zu verhalten; Nett sein, Wünsche der Eltern zu erraten und erfüllen, immer für die Eltern da sein und vor allem, nichts Unanständiges anzustellen.
*Wenn ich hier von Mutter spreche meine ich die erste Bezugsperson, die naturgemäß meistens die Mutter ist.
Wenn Miller von "begabten Kind" spricht meint sie nicht eine kognitiv überdurchschnittliche Begabung, sondern eher eine emotionale (Früh-)Reife. Diese Kinder waren Vorzeigekinder. Sie machten den Eltern nicht nur keine Probleme, im Gegenteil, sie waren eher die Ansprechpartner um Probleme zu diskutieren. Wärenddessen wurden die Eltern wahrscheinlich für Erziehungskompetenzen gelobt.
Und zurück zu den Kindern. Sie haben gelernt, sich wie Erwachsene zu Verhalten um gesehen zu werden und dieses Verhalten, dieses sich wie Erwachsene Verhalten, wird bald zu deren einziger Verhaltensmöglichkeit.
Und obwohl diese vor-reife Verhaltensweisen in der Kindheit Vorteile mit sich bringen - unter Erwachsenen-, haben sie auch Nachteile, zum Beispiel verhindern sie die Immersion in die kindliche Welt des Spielens. Das Kind behält immer eine Metasicht auf die Dinge, die es nie verlassen kann, und die von anderen Kinder als nervig empfunden wird, da die Metasicht keine Fehler toleriert und zu Kritik neigt.
Diese Kinder werden von Gleichaltrigen als arrogant, besserwisserisch, altklug o.ä. empfunden.
Und die langfristigen Folgen?
Da das Kind hat nicht die Möglichkeit gehabt, mit seinen eigenen Gefühlen zu experimentieren, sich zu spüren, da es begabt war und schnell bemerkte, dass seine Gefühle nicht gut und nicht willkommen waren und so bleibt sein eigenes Ich unterentwickelt. Dies führt dazu, dass es, nach Winnicott, eine geliehene Persönlichkeit entwickelt, ein "falsches Ich".
Und wenn es endlich wirklich Erwachsen wird, wird es vielleicht fühlen, dass es nicht Herr seines Lebens ist, das es nicht weiß, wofür es irgendwas tut oder es sich wie chronisch gelähmt und erschöpft fühlt.
Ich denke, wie Miller, dass in unserer Gesellschaft, das Gebot "du wirst Vater und Mutter ehren" sich als eines der hartnäckigsten hält - da keiner hier was auszusetzen hat. Wahrscheinlich liegen die Wurzeln dieses Gebots in dem angeborenen und tief veranckertem Wissen, dass man die Eltern für das Überleben braucht. (Dies ist auch der Grund, warum es so extrem selten ist, dass kleine Kinder ihre missbrauchende Eltern denunzieren; sie sind von ihnen abhängig.)
Und wie der Angestellte, der nach Hause kommt und die Wut, die seinem Chef gelten sollte auf seine Frau loslässt, so bevorzugen wir auch unsere Gefühle überall zu projizieren, nur nicht bei unseren Eltern - und wenn ja, nur kurz und oberflächlich. Irgendwo wissen wir, dass wenn wir es täten, sich eine tiefe Traurigkeit einstellen würde und die Bastionen, auf die wir unsere Persönlichkeit aufgebaut haben, wackeln würden.
Hier ist Miller gnadenlos; man muss sich den Gefühlen stellen und die Verantwortlichen - die Meistens die Elten sind - dafür ins Gericht ziehen.
Man darf sich aber fragen, ob diese "private Rebellion" nötig ist um psychisch gesund zu werden, d.h. die Zügeln des eigenen Lebens in die Hand zu nehmen und sich wieder spüren zu lernen.
Reicht es vielleicht nicht mit einer allgemeinen Rebellion, z.B. gegen den Status quo, die Globalisierung oder den Kapitalismus?
Das muss natürlich jeder für sich entscheiden.
Meiner Meinung nach ist die größte Gefahr, wenn man sich den eigenen Verletzungen nicht stellt, neben dem Fortbestehen der chronischen Unzufriedenheit, deren Weitergabe an die eigenen Kinder.
Die ewige Wiederkehr der Geschichte die nicht reflektiert wurde.
Und in diesen Punkt bin ich mit Miller einer Meinung: die Konfrontation kann sich lohnen.
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Aligator (martes, 05 noviembre 2013 08:34)
Shön geschrieben, als Elternteil muss man gut aufpassen nicht das gleiche zu wiederholen... Wenn die Blinden Flecken sichtbar werden braucht man am besten Hilfe, dass die entstehende Gefühle in eine konstruktive Bahn gelenkt werden und zur Heilung beitragen.